Jüdische Studien Paderborn


Paderborn, 25.10.2017

Pnina Navè Levinson - jüdische Feministin, rabbinische Theologin, Pionierin des jüdisch-christlichen Dialogs

Antrittsvorlesung von Elisa Klapheck

Sehr geehrter Herr Peckhaus,
sehr geehrter Herr Lehrer,
sehr geehrter stellvertr. Bürgermeister,
sehr geehrter Herr Bittihn,
lieber Klaus,
liebe Kolleginnen und Kollegen,
sehr geehrte Interessierte - Lehrende und Studierende,
liebe Freundinnen und Freunde,
ich freue mich sehr, dass Menschen aus verschiedenen meiner Lebensstationen gekommen sind, - aus der Berliner Zeit – aus der Zeit in der jüdischen Gemeinde Bet Ha’chidush in Amsterdam, sogar deren heutige Rabbinerin, meine Nachfolgerin, wie überhaupt mehrere Rabbiner – sowie Mitglieder aus meiner Gemeinde, dem Egalitären Minjan der jüdischen Gemeinde Frankfurt,
liebe Verwandte.
 
Es ist ein wichtiger Moment für mich und den möchte ich gern verknüpfen mit einer wichtigen Frau: Pnina Navè Levinson – der jüdischen Feministin, rabbinischen Theologin und Pionierin die jüdisch-christlichen Dialogs. Sie erscheint mir geeignet, um darzustellen, aus welchen jüdischen Kontexten ich komme und welche Perspektiven ich für meine Arbeit heute daraus gewonnen habe.
 
Begegnung und Segen

Ich habe Pnina Navè Levinson erst in den späten 1990-er Jahren kennengelernt, als sie schon längst nicht mehr als jüdische Theologin in Heidelberg an der Theologischen Fakultät, der Pädagogischen Hochschule sowie der dort von ihr mit ins Leben gerufenen Hochschule für Jüdische Studien wirkte.

Pnina Navè Levinson und ich hatten beide dieselbe Lehrerin: die erste Rabbinerin der Welt - Regina Jonas. Pnina kannte sich noch persönlich, hatte bei ihr in den 30-er Jahren in Berlin Religionsunterricht. Leider ist die erste Rabbinerin 1944 in Auschwitz ermordet worden. Ich habe erst in den 90-er Jahren von ihrer Existenz erfahren und wollte dann unbedingt ein Buch über sie schreiben. Es gab auch ein Manuskript von ihr – eine halachische, also religionsgesetzliche Abschlussarbeit ihres Rabbinatsstudiums zum Thema: „Kann die die Frau das rabbinische Amt bekleiden?“ Ein Thema, das mich damals sehr bewegte. Das brachte mich zu Pnina Navè Levinson – denn der Leiter des Archivs im Berliner Centrum Judaicum, wo sich das Manuskript befindet, hatte sie damit beauftragt, es herauszugeben.

Ich verabredete mich also mit Pnina, die in Jerusalem und auf Mallorca zusammen mit ihrem Mann Rabbiner Peter Nathan Levinson ihr Rentnerinnendasein verbrachte und immer mal wieder nach Berlin kam. Wir trafen uns am Schabbat in der Synagoge Pestalozzistraße. Unten bei den Männern lief der Gottesdienst. Oben auf der Frauenempore saßen also eine alte jüdische Gelehrte, Pnina, und eine junge ambitionierte jüdische Feministin, ich, und verhandelten über das Manuskript der ersten Rabbinerin. Plötzlich machte Pnina eine Geste – und diese ist es, die mich heute über die Bedeutung von Pnina Navè Levinson sprechen lässt.

Hier muss ich einen rabbinischen Einschub machen. Einer der Gründe, warum Frauen in der Bibel und im rabbinischen Schrifttum und überhaupt in der jüdischen Geschichte nur sehr schwer eigene Traditionen, eigene Schulen mit eigenen Profilen und Anschauungen entwickelt haben, hängt auch damit zusammen, dass die Mütter, und damit meine ich nicht nur die leiblichen Mütter, sondern die Vorgängerinnengeneration, nicht im gleichen Maße die Töchter segneten, wie es die Väter mit den Söhnen taten – zum Beispiel Moses, der seinen Nachfolger Josua/ Jehoschua segnete – und damit das ganze eigene Selbstvertrauen auf die nächste Generation übertrug. Doch in den wenigen Fällen, da eine Mutter in der Bibel eine Tochter segnet – wird daraus auch schon eine ganz große Geschichte. Zum Beispiel Naomi, die ihre Schwiegertochter Ruth segnet. Ruths Geschichte bildet nicht nur ein eigenes Buch in der Hebräischen Bibel, Ruth ist auch die Vorfahrin von König David – und legt damit die messianische Linie bis ans Ende der Tage. Am Anfang aber stand der Segen, den ihr die Schwiegermutter Naomi gab.
Ende meines rabbinischen Einschubs

Ich saß also in der Synagoge neben Pnina Navè Levinson und versuchte sie davon zu überzeugen, dass ich, als Vertreterin einer jüngeren Genenation jüdischer Frauen, und nicht sie, das besagte Buch über die erste Rabbinerin schreiben sollte. Plötzlich legte Pnina ihre Hand auf meinen Arm, sah mich verblüfft an – und ich spürte, wie ich in diesem Moment ihren Segen erhielt.

Aber ich spürte auch, dass es kein wirkliches Loslassen war, nicht nur eine Übergabe an die nächste Generation – mir war klar, dass ein Segen auch eine Rückwirkung an denjenigen oder diejenige entfaltet, die ihn gibt. Sie ist in ihm inbegriffen, wird Teil der Kette.
 
Leben und Bedeutung

Pnina Navè Levinson ist in der Generationenkette jüdischer Theologinnen diejenige, die das abgerissene Band nach der Schoa wieder aufgenommen hat.

Sie wurde als Paula Faß 1921 in Berlin geboren. Die Großeltern waren fromme Chassidim, die Eltern modern-religiös. 1935 emigrierte die Familie nach Palästina, wo Pnina 1939 in Tel Aviv das Abitur machte. Sie studierte an der Hebräischen Universität in Jerusalem und erhielt 1952 als erste Frau an der Fakultät für Jüdische Studien die Doktorwürde. Ihre Promotion in Hebräischer Literatur widmete sich den Gedichten von Jakob Francés im 17. Jahrhundert.
In den kommenden Jahren war sie Redakteurin der Hebräischen Enzyklopädie und anderer Nachschlagewerke. Sie arbeitete eng mit Martin Buber zusammen, ebenso mit dem Philosophen Yeshayahu Leibowitz und anderen großen Denkern des deutschen Judentums, redigierte und übersetze deren Manuskripte.
1958 – eine weitere Wegmarke - gründete sie zusammen mit Schalom ben Chorin in Jerusalem die erste liberale Synagoge Israels – die Synagoge Har-El, heute ein Flaggschiff des liberalen Judentums, das gegen die alleinige Deutungshoheit des orthodoxen Oberrabbinates und für Religionsfreiheit im Staat Israel eintritt. Dort konnte Pninas Tochter, inzwischen hatte sie geheiratet und zwei Kinder bekommen, eine Bat Mizwa machen – was zu diesem Zeitpunkt noch für jüdische Mädchen unüblich war.
 
 
Heidelberg

In derselben Zeit bildete sich in Deutschland eine neue Generation von Theologen heraus, die keine christliche Theologie mehr formulieren wollte, ohne zugleich die Wurzeln des Christentums im Judentum hervorzuheben. Maßgebliches leistete auf diesem Feld Rolf Rendtorff, Professor für Altes Testament an der Theologischen Fakultät in Heidelberg. [Barbara Rendtorff] Er setzte sich für Beziehungen mit Israel ein und schuf die bis heute für Theologie-Studierende wichtige Institution „Studium in Israel“. Bei einem seiner Besuche lernte er Pnina Navè kennen und lud sie zu einer Gastprofessur 1967 nach Heidelberg ein – wo sie blieb.

Bei einem Vortrag begegnete sie ihrem zweiten Mann – Rabbiner Peter Nathan Levinson, damals schon Landesrabbiner von Baden, der ebenfalls in Berlin geboren war und in der Tradition des liberalen deutschen Judentums stand. Die beiden bildeten fortan ein eignes Zentrum jener deutschjüdischen Gelehrsamkeit, die es hier kaum noch gab – zumal es zu den Spätfolgen der Schoa gehörte, lange Zeit nicht mehr an die zerstörten Traditionen anzuknüpfen.
Mit dem Ehepaar Levinson zeichnete sich jedoch eine allmähliche Wende ab.
Pnina Navè Levinson entwickelte zunächst für die Theologische Fakultät das Fach „Judaistik“. Angehende evangelische Theologen konnten bei ihr rabbinische Exegese, jüdische Geistesgeschichte und Philosophie, die verschiedenen religiösen Strömungen des Judentums und vieles mehr lernen. Teilweise bot Navè Levison Übungen in Midrasch zusammen mit Rolf Rendtorff an, da dieser ebenfalls von ihr lernen wollte. Ehemalige Studenten, z.B. Erhard Blum, heute emeritierter Professor für Altes Testament in Tübingen haben mir nachhaltige Eindrücke geschildert – etwa dass sie durch Pnina eine völlig neue Sicht auf die Pharisäer gewannen – und damit ein neues Lesen der Evangelien im jüdischen Kontext möglich wurde. Hierfür hatten z.B. der Rabbiner Leo Baeck und der protestantische Pfarrer Robert Travers Herford schon in den 1920-er Jahren wichtige Grundlagen gelegt – Leo Baeck, indem er die Evangelien als jüdische Dokumente analysierte – Robert Travers Herford, indem er die positive Bedeutung der Pharisäer für das Christentum analysierte, was allein geht, wenn man die Evangelien zusammen mit den jüdischen Zeugnissen über diese Zeit liest.
 
Hochschule für Jüdische Studien

Pnina Navè Levinson steht aber auch, ich erwähnte es schon eingangs, am Anfang der Gründung der Hochschule für Jüdische Studien in Heidelberg. In den Artikeln und Büchern wird diese Idee abwechselnd, mal auf ihren Mann, Peter Levinson, mal auf sie, zurückgeführt. Peters Tochter, Sharon, hat mir jedoch erzählt, dass das das Akademische in der Beziehung von Pnina und Peter, von ihr ausging. Er selbst hat mir einmal gesagt, dass er keine Zeile geschrieben habe, ohne sie zuvor mit ihr diskutiert zu haben.

Tatsächlich haben beide in den späten 70-er und frühen 80-er Jahren alles getan, damit eine – wie sie es selbst nannten – „Jüdisch-Theologische Hochschule“ in Heidelberg entstehen könnte. Rabbiner Levinson überzeugte die damalige Kultusministerkonferenz und den Zentralrat der Juden in Deutschland davon, eine solche Ausbildungsstätte zu gründen. Sie sollte dem sich verschärfenden Mangel an Rabbinern, jüdischen Religionslehrern und Kultusbeamten in den jüdischen Gemeinden in Deutschland und ganz Europa entgegenwirken. Pnina Navè Levinson schrieb verschiedene Gutachten über die Lehrinhalte dieser Institution. Sie orientierten sich am Kurrikulum der einstigen Hochschule für die Wissenschaft des Judentums, dem liberalen Rabbinerseminar in Berlin, an dem in den 20-er Jahren auch Rabbinerin Regina Jonas studiert hatte. Es war klar, dass die Errichtung einer solchen Jüdisch-Theologischen Hochschule ein Gegensignal gegen das unter Juden in den 80-er Jahren immer noch vorherrschende Gefühl setzen würde, auf gepackten Koffern zu sitzen, und eine neue Perspektive aufschlüge – nämlich: Rabbiner made for Germany.

Das Ehepaar Levinson konnte sich mit diesem Konzept jedoch nicht durchsetzen. Gegründet wurde eine Hochschule für Jüdische Studien – also nicht jüdische Theologie, die außerdem auch keine Rabbiner ausbilden sollte, sondern eine erweiterte Judaistik für alle Interessierte anbot. Viele spätere Pfarrer haben dort Kurse belegt. Auch sollte Pnina Navè Levinson nicht die Professur erhalten, auf die sie gehofft hatte. Es ist nur nachzuvollziehen, dass diese Entwicklung bei den Levinsons große Enttäuschung, wenn nicht Verbitterung hervorrief. Vielleicht waren sie einfach nur zu früh mit ihrer Idee.

Das Zurückrudern erklärte sich auch darin, dass die damaligen Verantwortlichen noch nicht glauben konnten, dass das Judentum in Deutschland – in Europa – jemals wieder eine Relevanz haben würde. Wie viele Juden würden schon an einer Rabbinerausbildungsstätte in Heidelberg studieren wollen? Wie viele Rabbiner würden in dem klitzekleinen jüdischen Leben – damals gab es gerade mal 40.000 Juden in Deutschland – überhaupt gebraucht? Man war noch lange nicht so weit, in diese Richtung optimistische Vorstellungen zu entwickeln.

Außerdem entsprach die liberale Grundhaltung der Levinsons nicht dem jüdischen Mainstream. Pnina machte von Anfang an keinen Hehl daraus, für die religiösen Rechte der jüdischen Frauen einzutreten, was ebenfalls stets das Potential zum Skandal hatte. So lieferte sie sich schon 1978 in der Allgemeinen Jüdischen Wochenzeitung über mehrere Ausgaben regelrechte Schreibschlachten mit einem der damaligen Rabbiner zur Frage, ob Frauen zu repräsentativen Aufgaben im Gottesdienst, vor allem der Toralesung, zugelassen sind. Pnina wies es anhand von einschlägigen Talmudstellen nach – die übrigens auch Rabbinerin Regina Jonas in ihrer Arbeit „Kann die Frau das rabbinische Amt bekleiden?“ aufführte. Der Rabbiner bestritt es mit anderen Argumenten.
 
Rabbinische Theologie

Es ist nicht mein Anliegen, die damalige Entwicklung zu beurteilen oder verurteilen. Wohl aber ist es mein Anliegen, dass die historische Bedeutung, die Pnina Navè Levinson für die jüdische Theologie in Deutschland hat, nicht vergessen – ja gebührend geschätzt wird. Abgesehen davon, dass die Gründung der Heidelberger Hochschule für Jüdische Studien nicht ohne ihren Beitrag erzählt werden kann und darf, hat sie in den damaligen Jahren auch wichtige Publikationen für eine jüdische Theologie veröffentlicht – die jede für sich einen Meilenstein bildete.

1982 erschien ihr grundlegendes Buch „Einführung in die Rabbinische Theologie“, das inzwischen drei Auflagen erfahren hat. Als ich für meine erste Vorlesung mit dem Titel „Einführung in die jüdische Theologie“ hier in Paderborn eine Literaturliste zusammenstellte, machte ich die erschreckende Feststellung, dass es in deutscher Sprache bis heute nur Pnina Navè Levinsons Buch zur jüdischen Theologie gibt.

1910 war Rabbiner Kaufman Kohlers Werk „Grundriß einer systematischen Theologie des Judentums auf geschichtlicher Grundlage“ erschienen - 1910. Gut - danach veröffentlichte noch 1975 Schalom Ben-Chorin ein Werk mit dem Titel „Jüdischer Glaube. Strukturen einer Theologie des Judentums“, das allerdings die Glaubenssätze des mittelalterlichen Philosophen Maimonides ins Zentrum stellte.
Das heißt, dass es nach 1910 erst wieder Pnina Navè Levinson war, die eine deutschsprachige, systematische jüdische Theologie für heutige Leserinnen und Leser geschrieben hatte.

Mich frappiert, wie Navè Levinson darin Problemfelder anspricht, die auch meinen Lehrstuhl am Zentrum für Komparative Theologie und Kulturwissenschaften betreffen. So widmet sich ein ganzes Kapitel der Schwierigkeit des Begriffs „Theologie“ für Juden.
Zitat
„Es gibt kein eigenes System logischer Ableitungen, um diese Gegenstände [der Beziehung der Menschen zu Gott] zu lehren. In der Bibel und den Werken der Rabbinen wird vorausgesetzt, daß Juden an Gott glauben, weil sie ein geschichtliches Bewußtsein haben und sie selbst, ebenso wie ihre Vorfahren, Erfahrungen mit dem Handeln Gottes erleben. So ist die Theologie der Bibel eine ‚erzählende Theologie‘, und die rabbinische setzt diese Linie fort. Anders als die philosophischen Systeme griechischer Denker ist das rabbinische Denken ‚organisch‘, befaßt sich eher mit Situationen als mit Abstraktion, interessiert sich mehr für lebendige Zusammenhänge und Wirkungsweisen als für die saubere Definition der Ursachen.“ (S. 9)
Zitat Ende
Gleichwohl plädiert Navè Levinson dafür, die jüdische Scheu vor dem Begriff „Theologie“ zu überwinden. In dem Kapitel „Die Notwendigkeit der Theologie“ schreibt sie:
Zitat
„Nun meint man häufig, daß das Judentum die Religion des rechten Tuns sei. Dabei wird jedoch übersehen, daß ein solches Tun ebenfalls davon ausgeht, daß Gott etwas vom Menschen erwartet, ihm seinen Willen mitteilt, daß also das Tun die Ant-Wort auf ein Wort ist, es demnach Gebote gibt – und zwar solche die alle Menschen betreffen, und zusätzliche, die das jüdische Volk als Glaubensvolk betreffen. Diese Voraussetzungen sind eminent theologisch.“ (9)
Zitat Ende
In den Aussagen vieler großer jüdischer Denker, z.B. Maimonides im Mittelalter, spiegelten sich stets auch theologische Systeme. Und man könne es sich nicht leisten, - Zitat – „religiösen Behaviourismus zu fördern, indem es annimmt, daß es recht sei, Judentum zu praktizieren, ohne die Glaubensweisen zu betrachten, die den religiösen Praktiken erst einen Sinn verleihen.“ (9-10)
Das sind im jüdischen Kontext mutige Aussagen. Sie führen zu einem erweiterten Bewusstsein für die verschiedenen theologischen Akzente in der rabbinischen Geschichte und schaffen damit auch Raum für ein pluralistisches Verständnis des Judentums schaffen. Darin folge ich Navè Levinson.

Auch ihre Sichtweise einer „erzählenden Theologie“ hat bei mir hier in Paderborn schon zu Entsprechungen geführt – etwa einem Seminar mit meinen Kollegen Jochen Schmidt und Hamideh Mohaghegi über „Narrative Ethik“ – also nicht das große religiöse Normengebilde, sondern die impliziten Normen, die sich erst in den widersprüchlichen Erlebnissen und Erfahrungen offenbaren, von denen viele der biblischen und rabbinischen Geschichten handeln.
Zugleich hat Navè Levinsons „Einführung in die Rabbinische Theologie“ jedoch einen Haken, den ich sofort erkenne – sie hat eben doch versucht, die rabbinische Theologie in ein systematisches Gerüst zu überführen – z.B. durch die drei großen Oberthemen, nach denen das Buch gegliedert ist:
Teil I. Die Lehre von Gott
Teil II. Die Lehre vom Menschen
Teil III. Die Lehre von der Welt
In diese 3 Begriffe fügt sie alle Unterthemen ein
– etwa bei der Lehre von Gott: die jüdischen Gotteserfahrungen, Gottes Namen, Transzendenz und Immanenz Gottes, usw.
– bei der Lehre vom Menschen: das jüdische Menschenbild, Themen wie Verantwortung, Freiheit, Umkehr, usw.
– bei der Lehre von der Welt, die Welt als Schöpfung und die darin enthaltene besondere Heiligkeit der Schöpfung.
Sie beschreibt ein normatives System, das in seiner Grundanschauung – also Navè Levinsons Grundanschauung, modern genug formuliert ist, dass sich zu jedem einzelnen Satz nur rundheraus ein Ja sagen lässt. Aber irgendwie bleibt dabei das Gefühl in ein geistiges Korsett gesteckt worden zu sein.
Das Problem ist die theologische Eindeutigkeit ihrer Aussagen, die bei mir nicht zündet. Eine jüdische Theologie muss heute vor allem der Ambivalenz gegenüber den religiösen Traditionen gerecht werden können. Sie muss über ein Scheitern Gottes in der Geschichte sprechen können, die Fragilität Gottes als eine religiöse Erfahrung in der Schoa thematisieren und die säkulare Selbstermächtigung der Menschen als eine produktive Handlung innerhalb ihrer Beziehung zu Gott sehen lernen. Vor allem muss sie eine dialogische Streitbeziehung mit Gott eröffnen, um Menschen wie mich anzusprechen.
 
Feministische Theologie

Es ist bezeichnend, dass Navè Levinsons zweites Buch, das im Titel ebenfalls den Begriff Theologie enthält, viel stärker in diese Streitbeziehung weist. Zehn Jahre nach der „Einführung in die rabbinische Theologie“ erschien 1992 das Buch „Eva und ihre Schwestern. Perspektiven einer jüdisch-feministischen Theologie“.
 
Legt man die beiden Bücher nebeneinander, ergibt sich eine interessante Feststellung. Beide Male beginnt Navè Levinson mit dem Gottesbild des Judentums, gefolgt von dem Menschenbild – die Lehre von Gott, die Lehre vom Menschen - also der theologischen Systematik, die sie entwerfen wollte. Aber dann weisen bei der feministischen jüdischen Theologie die einzelnen Themen in eine Richtung, die sich gar nicht mehr darin einfügen lässt. Es geht um kultische Reinheit und Unreinheit in Bezug auf den weiblichen Körper, rabbinische Kontroversen über die Halacha, die religiöse Rechtstradition auf Gebieten wie Familienrecht, Eheverträge, Scheidung - Auseinandersetzungen mit religiösen Rechten der Frauen, die sich an religiösen Pflichten der Männer reiben, die Widersprüchlichkeit der Moral in der Wirklichkeit. Ein Ja oder Nein lässt sich bei keinem dieser Einzelthemen formulieren – zu verwirrend sind die vielen Positionen. Navè Levinson stellt sie anhand der verschiedenen religiösen Richtungen von orthodox bis liberal dar und fädelt inmitten der Auseinandersetzung ihre eigene Streitbarkeit ein. Hier kommt beim Lesen dieselbe Lust auf, wie bei den Diskussionen im Talmud.

Pnina Navè Levisnon hat drei Bücher über jüdische Frauenthemen veröffentlicht. Der in diesen Werken vertretene Feminismus ist zwar stark apologetisch, indem er sich gegen das Klischee von der unterdrückten jüdischen Frau richtet - in seiner Apologetik jedoch zugleich erstaunlich kreativ. Navè Levinson betont die Rechte der Frau in der jüdischen Tradition und erkennt deren religiöse Leistung auf eine Weise an, die eine auch für mich eine neue Sichtweise barg. So schrieb sie z. B über das Bild der Frau als „Priesterin des Hauses“:
Zitat
„Als Religion der Familie braucht das Judentum die häusliche Priesterschaft der Frau, während der Mann für den mehrfach täglichen öffentlichen Gottesdienst verantwortlich ist. Zum Haus gehört der gesamte Bereich der Symbole und Feiern, die das Leben gestalten, die Speisegebote mit ihrer Nahrungsmittelchemie, die Gebete und Danksprüche, die strikten Hygienebestimmungen. Im Mittelalter waren vielerorts Juden die einzigen, die ihre Badekultur bewahrten, als dieses ansonsten verpönt war. Und bereits in der Antike hatten die Pharisäer als Vertreter des religiösen Fortschritts eingeführt, daß der Tisch des Hauses der Altar Gottes ist und die Frauen den Sabbat mit Licht einsegnen. (Töchter, 1989, 11)
Die Frau als „Priesterin des Hauses“ war danach nicht nur eine schöne Umschreibung für die Verbannung der Frau in den häuslichen Bereich, sondern in die eigentliche Gestaltung der kultischen Seite des Judentums. Erst viel später habe ich Pninas Sicht zu schätzen gelernt – und sie hilft mir heute, etwa in dem Projekt „Transformationen des Heiligen“ hier an der Universität Paderborn, die jüdische Transformation des Heiligen in seiner kultisch-säkularen Entwicklung gerade auch als eine besondere Leistung der Frauen zu erkennen.
 
Pnina Navè Levinson und andere jüdische Professorinnen

Trotz dieser Meilensteine – Initiatorin der Hochschule für Jüdische Studien in Heidelberg, Autorin wegweisender Publikationen über die rabbinische Theologie und die jüdisch-feministische Theologie – sowie viele weitere Veröffentlichungen - habe ich die Bedeutung von Pnina Navè Levinson erste Jahre, wenn nicht Jahrzehnte später, ermessen gelernt.
Darin bin ich gewiss nicht die Einzige.
Ein Grund liegt sicherlich darin, dass sie keine Sympathieträgerin war, was wiederum erklärt, warum ihr zu Lebzeiten nicht die gebührende professionelle Anerkennung entgegengebracht wurde. Andererseits fragt man bei Männern auch nicht, wie sympathisch sie waren und ehrt sie trotzdem.
 
Neben Pnina gab es noch einige andere, vergleichbare jüdische Frauen, die wie sie an der Tradition des deutschen Judentums vor der Schoa anknüpften – Frauen, die mitunter erst in fortgeschrittenem Alter studieren konnten, dann promovierten und schließlich doch noch akademische Positionen bekleideten. So wurde in Ostberlin Marie Simon, eine einstige Freundin von Pnina und ebenfalls Religionsschülerin von Regina Jonas, Professorin für Altphilologie und veröffentlichte unter anderem auch über jüdische Philosophie. In Westberlin wurde Marianne Awerbuch, die aus Israel zurückkehrte, Professorin für jüdische Geschichte und zeitweilig Direktorin des Instituts für Judaistik. Ich könnte noch mehrere dieser – aus meiner heutigen Sicht alten Damen – nennen, die die Schoa überlebt hatten und das Gebiet der jüdischen Studien ebneten.
Gemeinsam ist ihnen ein hochgelehrter und trotzdem gralshütender, strenger Grundton, der auf die Adressaten – egal ob nichtjüdisch oder jüdisch - verstummend wirkte. Ich hätte mich damals nicht getraut, mit ihnen zu diskutieren. Christen fühlten Scham aufgrund der NS-Zeit – aber auch Juden fühlten sich angesichts von solchem gelehrten jüdischen Wissen beschämt, ließ es sie doch spüren, wie tief abgebrochen ihre Tradition war. Sie hüteten etwas, das eigentlich als zerstört galt – und verteidigten es mit Argusaugen gegen jede missverständliche Vorstellung von außen. Sie haben es so bewahrt – über die Schoa hinaus gerettet – jedoch ohne zu wissen, wie sie es den Nächten tradieren könnten.

Sie hatten einen Ton, den ich allerdings auch von mir selbst kenne – der Ton, der entsteht, wenn der Resonanzraum fehlt, kein echtes Gegenüber existiert und alles Reden zum Belehren wird. Er entsteht auch, wenn man als Jude/ als Jüdin immer wieder für das Judentum im Ganzen sprechen soll. Es ist eine fatale Falle, die verhindert zu einer eigenen Haltung zu gelangen – eine Falle, in die nicht nur Pnina Navè Levinson regelmäßig ging. Wenn ich das auf meine heutige Situation als Professorin für Jüdische Studien in einem theologischen und kulturwissenschaftlichen Umfeld beziehe, darf es hierzu niemals kommen. Streitbarkeit, Diskurs, viele Positionen – nicht nur innerjüdisch, sondern hier in Paderborn auch zwischentheologisch müssen den Boden garantieren, auf dem die eigene Haltung lebendig bleiben kann.
Meine Generation hat gegenüber der von Pnina Navè Levinson das Privileg, nicht nur zu retten, was fast ganz zerstört worden ist. Was mich von Pnina Navè Levinson grundlegend unterscheidet, ist der Mut zu ergebnisoffenen neuen Lektüren der Bibel, des Talmuds, der rabbinischen Literatur – die Erschließung neuer Felder wie die religiöse Dimension des säkularen Judentums, eine jüdische Wirtschafts- und Sozialethik unter globalen Vorzeichen, eine politische Theologie des Judentums als Beitrag zu einer neuen Beziehung zwischen Religion und Politik – und all das in einer größeren Welt, in der das Judentum nicht beschützt werden, sondern in ein Geflecht von vielen Anschauungen einhaken und es mitgestalten will.
 
Jüdisch-Christlicher Dialog

Ein weiteres Feld, auf dem Pnina Navè Levinsons Bedeutung nicht vergessen werden darf ist der Jüdisch-Christliche Dialog in Deutschland – ich nenne ihn manchmal die christlich-jüdische Konspiration. Interessanterweise ist religionssoziologisch noch nie richtig analysiert worden, wer sich an diesem Dialog beteiligte und beteiligt. Auf der jüdischen Seite waren es zumeist einige wenige Rabbiner und Interessierte, die trotz der Schoa eine jüdische Perspektive in Deutschland sahen und sich deshalb auf das Gespräch einließen. Diese Einstellung entsprach jedoch nicht dem jüdischen Mainstream, der aufgrund der Schoa, auch heute nach wie vor Vorsicht walten lässt.
Auf der christlichen Seite sind es Menschen, die mit der Betonung des Jüdischen im Christentum eine innerchristliche Religionskritik leisten und damit ebenfalls nicht ganz im Mainstream liegen.

Juden, die im christlich-jüdischen Dialog aktiv waren, haben dies oft vor sich selbst rechtfertigen müssen. So erklärt Peter Nathan Levinson in seiner Biographie „Ein Ort ist, mit wem ich bin“ über mehrere Seiten, warum er sich auf den Dialog eingelassen habe – und deswegen oft als „Pfarrer Levinson“ belächelt worden ist. Levinson führt Gründe an, wie durch das Gespräch mit Christen antijüdischen Vorurteilen entgegen zu wirken und diejenigen, die eine Theologie des Christentums formulieren, die um ihre jüdischen Wurzeln weiß, zu unterstützen.
Doch die jüdisch-christliche, christlich-jüdische Zone dieses Dialogs enthält durchaus mehr. Beide Seiten profitieren. Juden können hier Sichtweisen erproben, die in einer jüdischen Gemeinde Anstoß erregen würden. Auch ich war hiervon Nutznießerin - konnte zum Beispiel als Rabbinerin öffentlich auftreten, und sich dadurch das jüdische Leben langsam an die neue Erscheinung gewöhnen. Für Pnina, die in vielen jüdisch-christlichen Gremien wirkte, war die jüdisch-christliche Zone ein äußerst wichtiges Forum, um sich überhaupt artikulieren zu können. An manchen Stellen ihres Werks blinken auch neue Erkenntnisse für sie selbst auf. Zum Beispiel schrieb sie 1990 in einer Stellungnahme zur Frage „Hat sich der christlich-jüdische Dialog gelohnt?“:
„Juden können von Jesus nur wissen, was Christen als ihren Auftrag vorleben. Dass ich dies im Dialog lernte, machte ihn für mich sinnvoll.“
Für mich spricht aus diesen Worten eine interessierte Offenheit für das Eigene des Anderen. In einer anderen Stellungnahme mit der Überschrift „Voraussetzungen für den christlich-jüdischen Dialog“ sagte sie 1996:
„Um einen Dialog zu führen, müssen wir zunächst die Vokabeln lernen, zuhören, die Unterschiede wahrnehmen. Wir reden mit unserem Gegenüber, nicht mit dem eigenen Spiegelbild. Es ist befreiend zu wissen, dass wir keine siamesischen Zwillinge sind, sondern bei allem Gemeinsamen unterschiedlich strukturiert sind. Wenn wir im Dialog das Eigene ausdrücken, wird uns selbst besser deutlich, woraus es besteht, es bleibt weder Formel noch ein vages Gefühl. – So durchleben wir das dialogische Prinzip, die Ich-Du-Beziehung, die keine Einbahnstraße ist. Martin Buber lehrte uns, dass aus einem wirklichen Gespräch jeder anders herausgeht, als er hereingegangen ist.“ (1996 – Voraussetzungen für den christlich-jüdischen Dialog)

Fast wäre das ein Schlusswort, das sie - zusammen mit ihrem damaligen Segen in der Synagoge Pestalozzistraße - auch mir mit auf den Weg gibt. Bewahre den Unterschied – poche auf Dein Recht auf Differenz.
Aber damit ist nicht alles gesagt.
Heute geht es auch um geistige Kreativität – um die Erschließung neuer Felder – durchaus neuer jüdischer Felder und einem theologischen Diskurs, der sich auch auf jüdische Vorgaben einlässt. Diese müssten aber erst noch formuliert werden – und dafür ist das Zentrum für Komparative Theologie und Kulturwissenschaften ein vielversprechender Rahmen.



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JÜDISCH-POLITISCHES LEHRHAUS

Bericht

„Eigentum verpflichtet“ in der jüdischen Wirtschafts- und Sozialethik

Von Barbara Goldberg

Eigentum verpflichtet: Dieser Satz ist im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland zu finden. Warum aber wurde ausgerechnet er zum Titel einer Podiumsdiskussion, die im vergangenen Monat im Rahmen der Veranstaltungsreihe „Jüdisch-politisches Lehrhaus“ in Frankfurt stattfand? Die Veranstaltungsreihe selbst ist ein Kooperationsprogramm der Goethe-Universität, des Frankfurter Jüdischen Museums, der Stadt Frankfurt und des von Rabbinerin Prof. Dr. Elisa Klapheck begründeten Vereins „Torat Hakalkala“, der sich der Förderung einer angewandten jüdischen Wirtschafts- und Sozialethik widmet.
Für den Titel „Eigentum verpflichtet“ im Zusammenhang mit jüdischer Ethik gibt es gewichtige Gründe – so etwa die Tatsache, dass dieser Satz ursprünglich von dem deutsch-jüdischen Rechtswissenschaftler Hugo Sinzheimer stammt. Sinzheimer und den jüdischen Wurzeln in seinen Schriften zum Rechts- und Sozialstaat war die Podiumsdiskussion denn auch gewidmet. Professor Christian Wiese, Inhaber der Martin-Buber-Professur am Fachbereich Evangelische Theologie der Frankfurter Universität, erinnerte dabei auch an das Freie Jüdische Lehrhaus, das von Martin Buber und Franz Rosenzweig im Frankfurt der 1920er-Jahre mit der Absicht ins Leben gerufen worden war, das Judentum im Kontext einer säkularen und liberalen Gesellschaft religiös und kulturell zu erneuern.
Allerdings ging es bei der Diskussion nicht nur um die Person Sinzheimer. Vielmehr seien, so Rabbinerin Klapheck, „viele jüdisch geprägte Gedanken und Inhalte für uns zur Selbstverständlichkeit geworden.“ Mit dem „Jüdisch-politischen Lehrhaus“ sollen deshalb, so die Frankfurter Rabbinerin, Rückschau und Rückbesinnung auf die Errungenschaften der jüdischen Tradition gehalten werden. Elisa Klapheck erinnerte daran, dass die jüdische Ethik eine „Ethik der Pflichten“ sei: „Der höchste Status bedeutet daher nicht Rechte, sondern Pflichten zu haben.“ Deren Zweck sei es, einen religiös motivierten sozialen Zusammenhalt zu erzeugen.
Welche Pflichten das Eigentum auferlegt, erläuterte Rechtsanwalt Abraham de Wolf, der sich seit vielen Jahren im Arbeitskreis jüdischer Sozialdemokraten engagiert und dem Vorstand von „Torat HaKalkala“ angehört. De Wolf zitierte die Passagen aus Tora und Talmud, in denen den Bauern vorgeschrieben wird, auf ihren Äckern und Feldern die Ecken bei der Ernte unberührt stehenzulassen, damit sich die Armen dort bedienen können. „Das sind keine Almosen, sondern Arbeit, weil die Bedürftigen die Früchte und das Getreide selbst holen müssen.“ Auf diese Weise bleibe deren Würde gewahrt. Im Talmud werde überdies genau dargelegt, wer auf das Feld dürfe, wie groß die Ecken im Verhältnis zur Gesamtfläche, zur Höhe des Ertrags und der Anzahl der Armen zu seien hätten: „Aus diesen Bestimmungen lässt sich ein Rechtsanspruch auf einen Anteil der Ernte ableiten“, hob der Jurist hervor.
Wie sehr das Judentum bereits vor mehreren tausend Jahren um den Ausgleich, um soziale Gerechtigkeit bemüht war, zeige sich, so de Wolf, auch in der Bestimmung, wem die traditionelle Abgabe des sogenannten Zehnten zugedacht werden solle. Es sollten „Priester, Leviten, Witwen, Waisen, Fremde und Pilger nach Jerusalem“ gleichermaßen in den Genuss dieser Zuwendung kommen, heißt es in der Tora. Das bedeutet: Es gibt keine Hierarchie innerhalb des Anspruchs auf Unterstützung, eine Witwe ist nicht weniger dazu berechtigt als ein Priester.
Einen Ausgleich schaffen zwischen den Besitzenden und den Mittellosen, aber auch zwischen den unterschiedlichen Interessen innerhalb einer Gesellschaft: Für Elisa Klapheck und Abraham de Wolf handelt es sich dabei um ein eminent jüdisches Element, das sich auch im Denken Hugo Sinzheimers wiederfinde. So habe sich der Rechtsgelehrte stets für eine Wirtschaftsordnung eingesetzt, die den Grundzügen der Gerechtigkeit entspreche und den Arbeitnehmern ein menschenwürdiges Dasein gewährleiste. Gleichzeitig habe er aber immer betont, dass die Beschäftigten selbst für ihre Sache eintreten müssten. In diesem Lichte sei auch sein Konzept der Tarifautonomie zu sehen: Fern jeglichen staatlichen Dirigismus sollten die Tarifparteien eigenständig Kompromisse aushandeln. Hier klingt erneut das Motiv des Ausgleichs an, aber auch ein weiteres jüdisches Moment, wie de Wolf erläuterte: „Jüdisches Denken ist nicht antistaatlich, aber autonom und unabhängig von nationalen Ideologien oder staatlicher Lenkung.“
Unter dem NS-Regime wurde Hugo Sinzheimer verfolgt und musste 1933 aus Deutschland flüchten. In der Weimarer Republik war er zuvor aber durchaus gewürdigt worden. 1921 hatte ihn die Frankfurter Universität zum ersten Professor für Arbeitsrecht in Deutschland ernannt.
Wie sehr Sinzheimer und viele andere jüdische Gelehrte den Geist der Mainstadt geprägt haben, schilderte Frankfurts Oberbürgermeister Peter Feldmann. Feldmann erinnerte an die auf Sinzheimer zurückgehende Gründung der „Akademie der Arbeit“ an der Goethe-Universität, auch sie ein Musterbeispiel für das von Sinzheimer propagierte Modell des Ausgleichs: Finanziert wurde dieses Institut nämlich durch Unternehmer und Arbeitgeber. Sinzheimers Ziel war es allerdings, Arbeitnehmern den Zugang zur Bildung zu ermöglichen, damit sie sich im Arbeitskampf und bei Tarifverhandlungen auf Augenhöhe mit ihrem Gegenüber auseinandersetzen sollten. „Sinzheimer hat immer für den gesellschaftlichen Fortschritt argumentiert“, so Peter Feldmann. Ein Revolutionär war er indessen nicht. „Man kann die Wirtschaft mit Gewalt ändern“, soll Sinzheimer gesagt haben, „aber nicht mit Gewalt führen.“

In: Zukunft. Informationsblatt des Zentralrats der Juden in Deutschland, 29.9.2017

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Einladung

„Eigentum verpflichtet“ in der jüdischen Wirtschafts- und Sozialethik
 
Vortrags- und Diskussionsveranstaltung mit dem Oberbürgermeister der Stadt Frankfurt a. M., Peter Feldmann, Rabbinerin Elisa Klapheck und Rechtsanwalt Abraham de Wolf.
Das Grußwort hält Prof. Dr. Christian Wiese (Goethe-Universität)
 
„Eigentum verpflichtet“ – dieser Satz bringt die jüdische Wirtschafts- und Sozialethik auf den Punkt. Er wurde von Hugo Sinzheimer, dem Frankfurter SPD-Politiker und Vater des deutschen Arbeitsrechts, in die Weimarer Verfassung eingebracht und später ins Grundgesetz übernommen. Was bedeutet er im Lichte der jüdischen Tradition sowie heutigen Vorstellungen von Wirtschaftsgerechtigkeit?
 
Dienstag, 22. August
19-21 Uhr
Campus Westend
Casino, Trude Simonsohn-Saal
Frankfurt a. M.

Anmeldung bis 18. August bei protokoll@stadt-frankfurt.de


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Auftaktveranstaltung am 8. März 2017
im Frankfurter Stadthaus
mit Elisa Klapheck, Micha Brumlik und Hauke Brunkhorst
"Die politische Tradition des Judentums"


Jüdische Allgemeine, 16. März 2017

Streiten wie die alten Rabbinen
Das neue Lehrhaus befasste sich mit weltlichem und religiösem Recht
von Barbara Goldberg


Gut besucht: Auftaktveranstaltung des neu gegründeten
Jüdischen Lehrhauses mit Rabbinerin Elisa Klapheck
und Hauke Brunkhorst                    Foto Rafael Herlich



Streitlust ist in Frankfurt beste Tradition.« Mit diesen Worten begrüßte Frankfurts Oberbürgermeister Peter Feldmann (SPD) am vergangenen Mittwochabend die Zuhörer zur Auftaktveranstaltung des neu gegründeten »Jüdisch-Politischen Lehrhauses«, für das er die Schirmherrschaft übernommen hat. 

Unter diesem programmatischen Titel soll es in Zukunft regelmäßig Veranstaltungen mit Vorträgen und Diskussionen geben, die sich mit der Bedeutung religiöser und politischer Diskurse im Judentum und ihrer Ausstrahlung auf gesamtgesellschaftliche Entwicklungen befassen. »Mein Wunsch ist es, mit dieser Reihe den Anteil der jüdisch-politischen Tradition an der europäischen Geschichte sichtbar zu machen«, betonte Rabbinerin Elisa Klapheck aus Frankfurt, die Initiatorin und Mitgründerin des Lehrhauses. Viele Zuhörer waren zur Eröffnungsveranstaltung gekommen. 

Natürlich denkt man bei diesem Titel sofort an das berühmte, von Franz Rosenzweig im frühen 20. Jahrhundert ebenfalls in Frankfurt ins Leben gerufene »Jüdische Lehrhaus«, doch möchte Elisa Klapheck mit diesem Format vor allem auch an die vor mehr als 2000 Jahren entstandene rabbinische Kultur der Schriftauslegung und Debatte, wie sie der Talmud überliefert, anknüpfen.

SPANNUNGSVERHÄLTNIS

Im Kern ging es an diesem ersten Abend um das Spannungsverhältnis zwischen religiösem und säkularem Recht. So wies Hauke Brunkhorst, Direktor des Instituts für Soziologie an der Uni Flensburg, auf die Doppelgesichtigkeit der Religion in Bezug auf Macht und Herrschaft hin. 

Zum einen habe sie historisch häufig dazu gedient, den Anspruch auf Herrschaft und die daraus resultierende Unterdrückung und Ungleichheit der Bevölkerung zu legitimieren – man denke nur an das »Gottesgnadentum«, das frühere Monarchen in Europa für sich reklamierten. Gleichzeitig wohne jeder Religion auch ein utopisches Moment inne, die Vision einer geheilten und befreiten Welt. »Um das Reich Gottes Wirklichkeit werden zu lassen, muss die Knechtschaft der Regierungen besiegt werden.«

Mit dem Bund, den das Volk Israel mit Gott am Sinai schloss, wurde die Gleichsetzung von Herrschaft und Heil aufgelöst. Denn fortan sahen sich die Juden einzig Gott und den von ihm erlassenen Geboten verpflichtet. 

BUNDESSCHLUSS

Damit war eine universalistische Gegenposition zum konventionellen Gehorsam gegenüber jedweder willkürlichen, weltlichen Macht bezogen. Dieses Konzept, wie es sich im Bundesschluss zwischen Israel und Gott abzeichnet, hat – wie Klapheck betonte – viele Verfassungstheoretiker und Rechtsphilosophen seit der Aufklärung inspiriert und war »bei allen demokratischen Schüben in der Geschichte Europas wirksam«. 

Auch sei das Verhältnis zwischen Gott und Mensch, wie es mit dem Bund begründet werde, nicht statisch, sondern spannungsreich: »Um die eigene Position immer wieder neu zu bestimmen, tritt der Mensch in eine Auseinandersetzung mit Gott«, erklärte Klapheck. »Der Bund mit Gott besteht also in sich ständig wandelnder Form weiter, entwickelt und verändert sich.« Schon die Rabbinen hätten versucht, »in der Tora, je nach aktueller gesellschaftlicher Situation, neue Aspekte zu entdecken, die sie mit wachsendem Selbstbewusstsein mitunter sogar gegen Gott durchzusetzen versuchten.«
Ein Spannungsverhältnis besteht aber nicht nur zwischen Mensch und Gott, sondern auch zwischen göttlichem und säkularem Gesetz. So heißt es im Babylonischen Talmud: »Das Gesetz der Regierung ist das Gesetz« – ein Satz, über den Brunkhorst und Klapheck länger diskutierten. Brunkhorst versuchte es mit einem Vergleich: »Das göttliche Recht ist wie das Grundgesetz, das säkulare Recht wie die jeweiligen Gesetzgebungen der Bundesländer. Das Grundgesetz gibt den Rahmen vor, sein Boden darf nicht verlassen werden.«

 Micha Brumlik, OB Peter Feldmann
                                                                                    Foto Rafael Herlich


BEZIEHUNG

Micha Brumlik, emeritierter Pädagogikprofessor und seit 2013 Senior Advisor am Zentrum Jüdische Studien Berlin/Brandenburg, war der dritte Gelehrte des Lehrhauses an diesem Abend. Er hatte eine wunderbare Geschichte aus dem Talmud ausgewählt, um die Beziehung zwischen Mensch und Gott zu illustrieren. In einer rabbinischen Debatte um die richtige Auslegung der Halacha bittet Rabbi Elieser um Beistand aus dem Himmel, um beweisen zu können, dass er als Einziger im Recht ist. Und tatsächlich ertönt, nach einer ganzen Reihe von Wundern, eine Hallstimme aus dem Himmel, die seine Sichtweise bestätigt. Und was antworten seine rabbinischen Kontrahenten? »Die Tora ist nicht mehr im Himmel. Sie ist bereits vom Berge Sinai verliehen worden. Und es steht dort geschrieben, dass nach der Mehrheit entschieden werden soll.«

Nach diesem Satz, so Brumliks Deutung, »kann niemand mehr behaupten, alleiniges Sprachrohr Gottes zu sein. Denn alles, was als göttlicher Wille bezeichnet wird, muss mehrheitlich legitimiert sein.« Doch der Clou liegt noch anderswo. So wird am Ende dieser Geschichte erzählt, Gott habe die Renitenz seiner Rabbinen mit dem Satz »Meine Söhne haben mich besiegt!« kommentiert. »Das ist antifundamentalistisch«, so Brumliks brisante aktuelle Interpretation dieses Ausspruchs. Vor allem aber bricht Gott nicht in Zorn über die Gelehrten aus. Im Gegenteil: »Gott lächelte«, heißt es, und so »menschlich« hat man den Höchsten wohl selten gesehen.

Beim nächsten Treffen des Lehrhauses steht die Wirtschafts- und Sozialethik aus jüdischer Perspektive auf dem Programm.

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Pressemittilung 9.3.2017

‚Das neue Stadthaus kann ein Ort spannender Debatten werden‘

Oberbürgermeister Peter Feldmann spricht bei der Auftaktveranstaltung der Reihe 'Jüdisch-Politisches Lehrhaus' im Stadthaus am Markt, 8. März 2017


 Foto Salome Roessler

Veranstaltungsreihe Jüdisch-Politisches Lehrhaus ist gestartet

(kus) Oberbürgermeister Peter Feldmann: „Mir ist es eine Herzensangelegenheit, die Veranstaltungsreihe ‚Jüdisch-Politisches Lehrhaus‘ an diesem Ort zu eröffnen und von Anfang an zu fördern. Zu Frankfurt gehört der Diskurs, und dieses Stadthaus hat das Potenzial, der neue Ort dafür zu werden. Ich wünsche mir den offenen Austausch aller weltanschaulichen Richtungen in unserer Stadt. Dazu gehört die Tradition des Jüdisch-Politischen Lehrhauses. Am Jüdischen Lehrhaus in Frankfurt wirkten prominente Köpfe wie Martin Buber, Ernst Löwenthal und Siegfried Kracauer ebenso wie die jüdische Feministin Bertha Pappenheim und die Philosophin Margarete Susman. Sie alle haben zugleich das intellektuelle Leben Frankfurts mitgestaltet. Es ist eine stolze, es ist auch eine jüdische Tradition. Ob Börne, um gleich den berühmtesten Namen aus den Anfängen des kritischen und demokratischen Denkens in Deutschland zu nennen, ob Sonnemann, der legendäre Gründer der Frankfurter Zeitung und sein Enkel Heinrich Simon, der aus dieser Zeitung ein politisch waches und geistig-intellektuelles Forum machte. Ob Hugo Sinzheimer, der an der Weimarer Verfassung mitschrieb und als Vater des deutschen Arbeitsrechts gilt: Sie alle haben in Frankfurt etwas vom politischen Geist des Judentums eingebracht und damit an der demokratischen Tradition unserer Stadt mitgewirkt. An diese Tradition mit der Veranstaltung des Jüdischen Lehrhauses anzuknüpfen macht mich stolz. Mein Dank gilt Rabbinerin Klapheck, sie hat diesen erfolgreichen Auftakt ermöglicht.“

Rabbinerin Elisa Klapheck: „Wenn im Rahmen dieser Veranstaltungsreihe über die jüdische Tradition gesprochen wird, dann muss das Label ‚jüdisch‘ beziehungsweise das, was als ‚Judentum‘ bezeichnet wird, bestimmten Kriterien genügen. Die jüdische Tradition ist nicht das Alte Testament – also die Bibel minus das Neue Testament, sondern die Folge eines dialektischen Prozesses zwischen dem, was Gott der Bibel zufolge will, und der kritischen Auseinandersetzung damit von Seiten der Menschen.

Diese Auseinandersetzung hat in der Antike die rabbinische Diskussionskultur geleistet. Ihr wichtigstes Werk ist der Talmud, der im 6. Jahrhundert fertig gestellt wurde. Die talmudischen Rabbinen haben das, was Gott in der Tora will, ernst genommen – und zugleich haben sie es, an der gesellschaftlichen Wirklichkeit, mit der sie zurechtkommen mussten, gewogen. Damit schufen sie eine religiöse Tradition, die von vornherein, weil sie von der weltlichen Wirklichkeit her argumentiert, auch säkular ist.“

In seinem Vortrag sah Hauke Brunkhorst den Ursprung der jüdisch-politischen Tradition in der monotheistischen „Umbuchung“ des Königtums auf Gott. Damit wurde der politische König desakralisiert und die Heilsvorstellungen auf den monotheistischen Gott übertragen. Mit dieser neuen Spannung zwischen Politik und Heil begann, wie Rabbinerin Klapheck in der Diskussion hervorhob, die altisraelitische politische Tradition. Micha Brumlik zeigte anhand der talmudischen Geschichte über das Mehrheitsvotum gegen Rabbi Elieser, wie das Spannungsverhältnis zu einer inneren Demokratisierung des Rabbinerkollegiums führte.

Bezogen auf die heutige Auseinandersetzung zwischen Religion und Politik wurde anhand von talmudischen Zitaten gezeigt, dass die jüdisch-politische Tradition Prinzipien formulierte, um die Religion in der Beziehung zur politischen Wirklichkeit weiterentwickeln zu können.

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Rede von Rabbinerin Elisa Klapheck

Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister, lieber Peter Feldmann,
sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freundinnen und Freunde,
 
ich hätte nicht gedacht, dass es so viel Interessie für das heutige Thema gibt. Das zeigt mir, wie notwendig es ist, das Judentum in den allgemeinen gesellschaftlichen Dialog einzubeziehen. Vielen Dank, dass Sie alle zur Auftaktveranstaltung der Reihe „Jüdisch-Politisches Lehrhaus“ gekommen sind. Sie setzen damit ein wichtiges Zeichen!
Vielen Dank auch an das Jüdische Museum, das als Kooperationspartner mitwirkt – und an den Betreiber des Stadthauses - der Frankfurter Verein für soziale Heimstätten e.V. zusammen mit Taste of Now. Ich sehe viele Gesichter, die mir bekannt sind – Menschen aus dem jüdischen Leben und solche, die ebenfalls zum jüdischen Leben dazugehören, auch wenn sie selbst keine Juden sind – und ich sehe noch mehr neue Gesichter – ich vermute, es sind Menschen, die wissen, dass in der jüdischen Tradition vieles steckt, was man als Allgemeinbürger kennen sollte – und deshalb einen Zugang dazu suchen.

 Foto Salome Roessler
 
Es erscheint deshalb mir notwendig, zunächst das Feld für die Themen dieser Reihe etwas genauer zu bestimmen. Nicht alles, was Juden machen, ist darum auch schon „jüdisch“ – oder: „jüdische Tradition“. Wenn im Rahmen dieser Veranstaltungsreihe über die jüdische Tradition gesprochen wird, dann muss das Label „jüdisch“ beziehungsweise, das was als „Judentum“ bezeichnet wird, bestimmten Kriterien genügen. Nicht alles, was auf Italienisch gesungen wird, ist italienische Oper – und man muss auch nicht Italiener sein, um italienische Oper zu lieben – ebenso muss man nicht Grieche sein, um von der griechischen Philosophie her die Demokratie zu begründen. Genauso muss man auch nicht Jude sein, um die politische Tradition des Judentums zu bejahen. Ich verstehe ihr zahlreiches Erscheinen als ein Zeichen, dass eine Auseinandersetzung mit der politischen Tradition des Judentums allgemein erwünscht ist.

Im Sinne dieser Veranstaltungsreihe „Jüdisch-Politisches Lehrhaus“ möchte ich gleich am Anfang ein häufiges Missverständnis ausräumen. Die jüdische Tradition ist nicht das Alte Testament – also die Bibel minus das Neue Testament. Es ist ganz falsch zu meinen, die Hebräische Bibel sei schon das Judentum. Es stimmt, dass es ohne die Bibel kein Judentum gäbe – aber dieses ist nicht identisch mit dem Alten Testament, sondern die Folge eines dialektischen Prozesses zwischen dem, was Gott der Bibel zufolge will, und der kritischen Auseinandersetzung damit vonseiten der Menschen.
 
Diese Auseinandersetzung hat in der Antike die rabbinische Diskussionskultur geleistet. Ihr wichtigstes Werk ist der Talmud, der im 6. Jahrhundert fertig gestellt wurde. Die Grundlage der jüdischen Tradition ist danach eine Dialektik von Bibel und Talmud - beziehungsweise von Gottes Willen in der Tora und der durchaus kritischen Auseinandersetzung damit vonseiten der Rabbiner. Ohne diese Dialektik ist auch die politische Tradition des Judentums nicht zu verstehen.

Christen, die sich im jüdisch-christlichen Dialog engagieren, betonen zumeist, was die mit dem Judentum gemeinsam haben – das Alte Testament, also die Bibel minus das Neue Testament. Aber das was anders war, was anders ist: die rabbinische Kultur und der Talmud – bleibt bei der Betonung des Gemeinsamen im Nebel. Parallel zum Neuen Testament und dem Wirken der Kirchenväter hat sich die ganz anders gelagerte jüdische Tradition mit ihrer wichtigsten Grundlage – dem Talmud entwickelt.

Wie ich schon sagte, leistete die rabbinische Kultur eine durchaus kritische Auseinandersetzung mit der Bibel – „Kritisch“ – das muss nicht in einem negativen Sinne verstanden werden; hier bedeutet es in einem konstruktiven Sinne – [griechisch: krinein = unterscheiden, trennen] - in einer konstruktive Spannung zur Bibel, in dem die Rabbiner anhand der gesellschaftlichen Wirklichkeit neue Akzente und eigene Ansichten gegenüber Gott einbringen.
Das Besondere an diesem Spannungsverhältnis – gerade wenn sie sich gegen Gott durchsetzten - war, dass sie die Beziehung mit ihm und seinen Forderungen deswegen keineswegs gebrochen haben – sondern gestärkt, indem sie ihm als ein immer selbstbewussteres Gegenüber begegneten. Darum wird es heute noch mehrfach gehen.
Die talmudischen Rabbinen haben das, was Gott in der Tora will, ernst genommen – und zugleich haben sie es, an der gesellschaftlichen Wirklichkeit, mit der sie zurechtkommen mussten, gewogen. Damit schufen sie eine religiöse Tradition, die von vornherein, weil sie von der weltlichen Wirklichkeit her argumentiert, auch säkular ist.

Die jüdische Tradition ist religiös, indem sie zugleich säkular – weltlich ist.

Das aus dieser Dialektik gewachsene Judentum ist also keine ungebrochene Fortsetzung der Tora oder des Alten Testaments – sondern ein kritisch-konstruktiver Umgang mit den Ideen der Tora – eine kritische Spannung der Menschen zum Höchsten, zu Gott, der Transzendenz, wie immer man es nennen will – um die Position des Menschen in der Welt zu bestimmen. In dieser Dialektik ist nicht alles schon einmal gesagt worden, so dass das früher einmal, in der Bibel Gesagte nur in einem zeitgemäßen Gewande wiederholt werden muss. Vielmehr vermag sich die aus dieser Dialektik entstandene Tradition zu revidieren – jedoch in einem Prozess, der das Alte nicht verdrängt, sondern – das ist wichtig - als Teil der Dialektik mitnimmt und nachvollziehbar macht.
 
Die Mensch-Gott-Beziehung bleibt als eine dialektische Beziehung fortbestehen.
 
Diese Dialektik ist auch die Basis der politischen Tradition des Judentums.
 
Sie kann, weil sie anhand der jeweiligen gesellschaftlichen Herausforderungen konstruktiv-kritisch mit Gott umgeht – zugleich auch kritisch gegenüber dem sein, was gerade in der Gesellschaft geschieht. Deshalb ist sie auch kritisch gegenüber Autoritäten eingestellt – was nicht feindselig bedeuten muss – konstruktiv-kritisch eben. Sie kann aus der dialektischen Beziehung heraus Dinge benennen, erkennen – aber nicht, indem das Verhältnis zu Gott aufgekündigt wird, sondern sich in der Dialektik weiter entwickelt.
 
Nach der religiös-säkularen Auffassung, die ich wohl mit den meisten Juden teile, ist der Bund, der am Sinai geschlossen wurde, kein vergangenes historisches Ereignis in der Tora – sondern besteht in neuen Formen, und gerade auch im säkularen Bewusstsein weiter. Die vielen Juden, die sich in der Gesellschaft politisch engagieren, tun dies oft aus genau dieser religiös-säkularen Bindung – also einem Selbstverständnis, dass sich Gott verpflichtet weiß, und zugleich neue Akzente und Vorstellungen setzt. Diese politische Tradition des Judentums, das ist meine Überzeugung, war immer anteilig an der Geschichte Europas – vor allem in den großen demokratischen Schüben – wirksam. Sei es vermittelt über das Christentum, sei es in säkularen Distanzierungen vom Christentum, die wieder an das jüdische religiös-säkulare Erbe anknüpften und es wirksam werden ließ.
 
So wurde die biblische Geschichte vom Exodus der israelitischen Sklaven aus Ägypten zur Blaupause für alle Revolutionen in Europa – wie Michael Walzer dargestellt hat. Und der Bundesschluss am Sinai inspirierte viele historische Verfassungsdebatten. Weiter zeichnete die rabbinisch-talmudische Diskussion über die menschliche Ebenbildlichkeit Gottes unsere heutige Vorstellung von der Menschenwürde.
 
Es gibt mittlerweile eine neue Generation von Autoren, die das politische Erbe der jüdischen Tradition endlich benennt. Zum Beispiel Eric Nelson, der in seinem Buch „The Hebrew Republic“ (Die Hebräische Republik) darlegt, wie die Denker in England und den Niederlanden ab dem 16./17. Jahrhundert von der jüdischen Rechtstradition inspiriert wurden – und so die Republik, Reformen, Religionsfreiheit begründeten.
Es spricht für sich, dass den Protagonisten dieser revolutionären Entwicklungen, auch wenn sie keine Juden waren, allzu oft vorgeworden wurde, zu „judaisieren“ – Judenknechte zu sein – wie David Nirenberg in seinem wichtigen Buch „Anti-Judaismus“ darlegt. Das lag nicht nur daran, dass ihre Revolutionen, die gleiche Rechte für alle Menschen verlangten, jeweils auch auf die Gleichberechtigung der Juden hinausliefen, sondern weil ihre Gegner genau wussten, dass hier ein politisches Erbe des Judentums zum Tragen kam.

Mein Wunsch ist es, mit dieser Reihe den Anteil der jüdisch-politischen Tradition sichtbar zu machen – wie er unsere demokratische Gesellschaft mitgeschaffen hat und immer noch mitgestaltet.

Bei der Konzeption dieser Veranstaltungsreihe dachte ich an das Lehrhaus – nicht nur das von Franz Rosenzweig, sondern das Lehrhaus, das von Anfang an zur rabbinischen Kultur gehörte. Das bedeutet, dass es nicht nur frontale Vorträge gibt, sondern hier ein Diskurs entstehen soll, bei dem wir alle durch die Auseinandersetzung mit dem Thema lernen. In Übereinstimmung mit den beiden Referentin habe ich einige Zitate aus dem Talmud zusammengestellt, die im Laufe des Abends eine Rolle spielen.
 
Zwei Aussagen des talmudischen Gelehrten Samuel, der im 3. Jahrhundert in der Stadt Nehardea lebte:
Heutige moderne Juden sehen in ihm einen Ausgangspunkt für die Emanzipation der Juden in der Diaspora und eine säkulare Auffassung.

1)
Dina deMalchuta Dina = „Das Gesetz der Regierung ist das Gesetz“ - auch für die Juden,
(Malchuta = Regierung, Land, Königreich, Staat)
Das Diktum kommt vielmal im Talmud vor (Ned 28a, Git 10b, BK 113a, BB 54b/55a)
und mindestens 25 Mal im Schulchan Aruch. Es bedeutet, dass Juden die Gesetze des Landes aktzeptieren, zugleich aber ihre eigene Rechtstradition haben. Sie wirken mit am Staat – und sind zugleich, aufgrund ihrer eigenen Rechtstradition an einen Diskurs mit Gott gebunden - was sich wiederum in einer kritischen Dialektik zum Staat spiegelt. Diese Einstellung ist, wenn Sie so wollen, auch eine Bedingung für die Demokratie.
 
2)
Das zweite Zitat von Samuel entstammt der großen talmudischen Debatte über den Messias. Was können wir von der messianischen Zeit - also der besseren kommenden Welt - erwarten? Ist es eine Welt nach der Welt? Ist es eine Welt, die schon jetzt im Werden ist, die wir durch richtiges Verhalten, das Befolgen der göttlichen Gebote und Gesetze, selber verwirklichen? Oder kommt sie allein durch göttliche Entscheidung? Durch eine Apokalypse? Die abrupte Ankunft eines Messias? Oder im Wege der kleinen Schritte?
Samuel nahm in dieser Debatte eine äußerst reservierte Haltung ein. Er warnte vor Illusionen und sagte:
"Es gibt keinen anderen Unterschied zwischen dieser Welt und den messianischen Tagen, als die Knechtschaft der Regierungen, denn es heißt: 'nie wird der Dürftige im Lande aufhören' (Deu. 15,11)." (Schabbat 63a) - Das heißt, dass wir auch in der messianischen Zeit immer noch werden arbeiten müssen. Nur die Herrschaft wird aufhören - wir werden keine Herren mehr über uns haben.

Über diese zwei Zitate von Samuel werde ich im Anschluss an das Statement von Hauke Brunkhorst mit ihm diskutieren. Sodann folgt ein Statement von Micha Brumlik über die talmudische Geschichte des Ofen von Achnai und die Demokratisierung des rabbinischen Lehrhauses (Baba Mezia 59a-b). Am Ende, wenn hoffentlich noch Zeit ist, werden wir hierüber mit dem Publikum diskutieren.

Schon jetzt bedanke ich mich für Ihr großes Interesse, worin ich ein gutes Vorzeichen für die Reihe "Jüdisch-Politisches Lehrhaus" sehe.


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Auftaktveranstaltung
JÜDISCH-POLITISCHES LEHRHAUS
 
„Die politische Tradition des Judentums“
Rabbinerin Prof. Dr. Elisa Klapheck diskutiert mit
Prof. Dr. Micha Brumlik und Prof. Dr. Hauke Brunkhorst
Schirmherr und Grußwort OB Peter Feldmann
 
8. März 2017, 19.30 Uhr
Stadthaus am Markt (gegenüber vom Dom)
Markt 1, 60311 Frankfurt

 
Am Mittwoch, den 8. März beginnt im unlängst fertiggestellten Stadthaus am Markt die Reihe „Jüdisch-Politisches Lehrhaus“. Es diskutiert die Frankfurter Rabbinerin Prof. Dr. Elisa Klapheck mit Prof. Dr. Micha Brumlik und Prof. Dr. Hauke Brunkhorst. Der Frankfurter OB Peter Feldmann ist Schirmherr der Reihe und wird ein Grußwort halten.
 
Die Veranstaltungsreihe knüpft an die jüdische Tradition Frankfurts an. Zu ihr zählten das von Franz Rosenzweig gegründete Freie Jüdische Lehrhaus ebenso wie zahlreiche bedeutende politische und jüdisch-religiöse Denker, die die Demokratie und den modernen Rechtsstaat prägten.
 
Das Thema dieser ersten Veranstaltung ist „Die politische Tradition des Judentums“. Sie fußt auf Gerechtigkeitsvorstellungen in der Bibel, talmudischen Ansprüchen an das Gemeinwesen sowie einer jüdischen Pflicht zu bürgerschaftlichem Engagement. Was kann sie für unsere Stadt heute bedeuten?
 
Die Veranstaltung findet statt in Kooperation mit dem Jüdischen Museum und dem Verein Torat HaKalkala - Verein zur Förderung der angewandten jüdischen Wirtschafts- und Sozialethik e.V.
 

Zu den Referenten
 
Micha Brumlik ist einer der bedeutendsten jüdischen Gegenwartsdenker in Deutschland und Autor zahlreicher Veröffentlichungen über die politische Tradition des Judentums, darunter „Kritik des Zionismus“ (2007), „Vernunft und Offenbarung“ (2010) und „Messianisches Licht und Menschenwürde. Politische Theorie aus Quellen jüdischer Tradition“ (2013).
 
Hauke Brunkhorst steht in der Tradition der kritischen Theorie und der Frankfurter Schule. Seine Publikationen beziehen gerade auch den jüdischen Anteil der politischen Ideengeschichte ein, etwa in „Einführung in die Geschichte politischer Ideen“ (2000) und „Solidarität. Von der Bürgerfreundschaft zur globalen Rechtsgenossenschaft“ (2002). Sein jüngstes Buch ist „Das doppelte Gesicht Europas - Zwischen Kapitalismus und Demokratie“ (2014). 

Elisa Klapheck ist Rabbinerin und engagiert sich für eine jüdisch motivierte Auseinandersetzung mit dem Verhältnis zwischen Politik und jüdischer Tradition. Ein Forum hierfür ist die von ihr herausgegebene Schriftenreihe „Machloket / Streitschriften“ mit den Bänden „Säkulares Judentums aus religiöser Quelle“ (2015) und „Bürgerschaftliches politisches Engagement als jüdische Praxis“ (2016).



Hauke Brunkhorst, Elisa Klapheck, Micha Brumlik
Foto Abraham de Wolf